ARBEITSPROBE:
Henning Richter
Journalist / Autor für Musik, Kultur & Sport

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Rush - Parallel-Universum

Kreatives Feuerwerk und Lebenshilfe - seit 30 Jahren rocken die Kanadier RUSH auf höchstem Niveau.

Unter dem Stichwort "Kult" findet sich in Meyers Lexikon folgende Erklärung: "Pflege, Verehrung einer Gottheit". Götter sind die Rush-Mitglieder zwar nicht, immerhin verehren ihre Fans die Kanadier leidenschaftlich und pflegen ihr musikalisches Werk hingebungsvoll. Für sie macht das kreative Trio mehr als nur Musik, in ihren Ohren ist sein Werk gleichzeitig emotionales Rückzugsgebiet und inspirierendes Parallel-Universum, komplettiert von Texten, die konkrete Lebenshilfe anbieten. Eine ähnlich treue Anhängerschar hatten nur die Grateful Dead, bis sie sich nach dem Tod von Gitarrist Jerry Garcia auflösten.

Die "Rockband des denkenden Menschen" geht prinzipiell arbeitsteilig vor. Die Melodien werden in ausgedehnten Sessions von Basser/Keyborder/Sänger Geddy Lee und Gitarrist Alex Lifeson erarbeitet. Die ausgefeilte Lyrik sowie die mitreißenden, gleichwohl komplexen Rhythmen steuert anschließend Neil Peart bei. Galten die progressiven, ausgedehnten Schachtellieder des Dreiers zu Beginn der Karriere als nordamerikanische Antwort auf die Briten Yes, wurden ihre Songs im Lauf der Zeit kürzer und prägnanter. Gleichzeitig sang Geddy Lee tiefer, was vielen Hörern den Zugang zu den Songs erleichterte.

Peart ist mit einer seltenen Doppelbegabung gesegnet. Zum einen ist er Herr der vielschichtigen Grooves, zum andern anregender Poet. Das letzte Studioalbum "Vapor Trails" enthielt einmal mehr Sätze, über die das Nachdenken lohnt. Stellvertretend sei eine Zeile aus dem Song "Secret Touch" genannt: "The way out / is the way in". Zu deutsch: Der Ausgang ist ein Eingang. Diese sieben Worte enthalten eine Menge Trost und Hoffnung, zeigen sie doch, dass es keine Situation ohne Ausweg gibt, irgendwo existiert immer der Zugang zu einer Lösung.

Neben den Texten für Rush hat Individualist Peart bislang zwei Bücher verfasst, "The Masked Rider" zu seiner Fahrrad-Tour durch Kamerun und "The Ghost Rider" über seine Motorradreisen kreuz und quer durch Nordamerika. Mit dem letzten Werk verarbeitete der sensible Autor den tödlichen Unfall seiner Tochter Selena und den anschließenden Krebstod seiner Frau Jacki. Ein großartiges Buch, in dem der Leser den Autor auf seinem Weg durch das tiefe Tal der Trauer ins Leben zurück begleitet.

Nachdem ihr Schlagzeuger die Schicksalsschläge überwunden hatte, steuerten Rush in eine höchst kreative Phase. Ihrem siebzehnten Studiodreher "Vapor Trails" folgten mit "Rush In Rio" eine Live-DVD sowie das gleichnamige Live-Album. Jüngster Tonträger ist die EP "Feedback", mit der sie ihren frühen Idolen Tribut zollen, wie Peart im Booklet schreibt. "Es war April 2004, doch Geddy, Alex und ich versetzten uns ins Jahr 1966 zurück, als wir dreizehn-, vierzehnjährige Anfänger waren. Wir dachten, es wäre ein passendes Symbol, um unser dreißigjähriges Bestehen zu feiern, wenn wir zu unseren Wurzeln zurückkehren und denjenigen Tribut zollen, von denen wir lernten und die uns inspirierten." Zu ihren auserwählten Idolen zählen The Who, Yardbirds, Buffalo Springfield, Cream und Blue Cheer. Respektvoll spielen die Drei die Hits ihrer Heroen nach, nur hier und da addieren sie behutsam etwas von ihrem eigenen Stil. Passend dazu sei notiert, dass Rushs Karriere als plattenproduzierende Künstler mit einem Cover begann, 1973 erschien ihre Version von Buddy Hollys "Not Fade Away".

Alex Zivojinovitch (Künstlername: Alex Lifeson) und Gary Lee Weinrib (Geddy Lee) hatten sich bereits auf der Schule in einem Vorort von Toronto getroffen. 1968 gründeten sie ihre Band (anfangs noch mit einem anderen Trommler) und intonierten Coversongs von Größen wie den oben genannten. 1974 veröffentlichten sie das Debütalbum "Rush", das peitschenden Hard Rock, beflügelt vom hohen, stechenden Gesang Lees enthielt. 1975 ersetzte Neil Peart den ersten Trommler, was an ihrer Musik nur wenig änderte. Ein Jahr später brachte das futuristische Konzeptalbum "2112" den kommerziellen Durchbruch. Mit "Permanent Waves" (1980) veränderte sich ihr Stil, die Songs klangen reifer und ausgefeilter, Lees Gesang strahlte großes Selbstbewusstsein aus. Jedes der nachfolgenden Alben geriet zu einem Meilenstein ihrer Karriere. Sollte man besondere Glanzpunkte nennen, könnte man zwei Alben hervor heben: "Grace Under Pressure" von 1984 ist ein wahrer Ohrwurm-Reigen, "Counterparts" (1993) geriet zu einem Werk voller Mitgefühl und treffender Beobachtungen. Global haben die Mannen aus Toronto bislang 39 Millionen Alben verkauft und vor sechs Millionen Zuschauern gespielt. Im September kommen Rush für fünf Konzerte nach Deutschland, wo sie zwölf Jahre nicht mehr aufgetreten sind.

"In dieser Band steht die Musik an erster Stelle" formuliert Lee das oberste Gebot von Rush. Als Grund für die rekordverdächtige Lebensdauer der Band sieht Kollege Peart die Tatsache, dass alle drei Mitglieder den gleichen kreativen Input haben. "Nach der Aufnahme einer Platte bleiben keine Frustrationen übrig, jeder ist beteiligt", sagt er. "Ich denke, wir sind ziemlich normale Menschen. Wir haben nie ein Riesen-Image oder einen überlebensgroßen Lebensstil gepflegt, sondern dachten einfach: ,Lasst uns nur miteinander auskommen und überleben'."

Henning Richter

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