ARBEITSPROBE:
Henning Richter
Journalist / Autor für Musik, Kultur & Sport

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NEW MODEL ARMY - Höhlenmalereien

Rebellion und Emotion: New Model Army bitten zum Karneval der Querdenker

"Britische Politiker zeigten sich schockiert, dass ein paar der Selbstmordattentäter von London aus West Yorkshire stammen, unserer Gegend. Wir dagegen waren keineswegs überrascht." Eine Bemerkung wie diese ist typisch für Justin Sullivan, den Mann mit dem fehlenden rechten Schneidezahn im Oberkiefer. Die (friedliche) Rebellion ist schließlich Teil seines Berufs als systemkritischer Rocker, einen wie ihn wundert es nicht, wenn Jugendliche sich auflehnen. Der Kopf der New Model Army sieht sich überraschenderweise in erster Linie als Musiker, dabei sind seine Texte mindestens ebenso verantwortlich dafür, dass seine Band zum weltweiten Untergrundkult geworden ist. Halb Humanist, halb Nihilist zeichnen sich seine Zeilen durch feines Einfühlungsvermögen und einen klaren Blick aus. Über die fanatisierten, oft pakistanisch-stämmigen Jugendlichen von Bradford hat er den Song "BD3" geschrieben, benannt nach der Postleitzahl ihres Stadtteils. "Tupac Shakur und Osama Bin Laden sind ihre größten kulturellen Ikonen, eine unheilige Allianz", urteilt er. "Mir gefallen einige Sachen von Tupac ganz gut, aber du lebst mit dem Schwert, du stirbst durch das Schwert. Sein Schicksal passt zu den Macho-Fantasien von heranwachsenden Jugendlichen." (Anm.: Tupac wurde 1996 in Las Vegas erschossen.)

"BD3" stammt vom neuen Album "Carnival", das in diesen Tagen erscheint. Die Tatsache, dass New Model Army in ihrer 25jährigen Existenz nur neun reguläre Alben herausbrachten, zeigt, welch hohen Maßstab die Nordengländer an ihre Arbeit legen. Dazu gehört auch, dass Sullivans Themen wachsen und reifen. Betrachtete er die Natur auf seinem romantischen Solo-Dreher "Navigating By The Stars" (2003) noch als faszinierend schönes Schauspiel, bindet er sie auf "Carnival" in seine Geschichten ein. In "Water" etwa stellt er fest, dass Leben ohne Wasser nicht möglich ist. Und im Refrain heißt es: "We´re only made of water / the full moon gets us high". Auch Justin wird drei Tage vor Vollmond "verrückt", in dieser Zeit packen ihn heftige Kreativitätsschübe. "In England galt es bis 1920 als mildernder Umstand, wenn ein Täter ein Verbrechen an Vollmond verübte." Er lacht bei dem Gedanken, dass sich das Wasser in den Körpern von George W. Bush und Osama Bin Laden eines Tages vermischen wird. "Das passiert, keine Frage. Beide sind sich ohnehin sehr ähnlich, sie sind überzeugt, dass sie von Gott das Recht bekamen, uns in irgendeine unsinnige Konfrontation zu treiben."

Das Verhältnis von Mensch und Natur ist auch Thema von "Island", in dem der rockende Querdenker das Schicksal der Osterinsel besingt. "Dort haben sie diese riesigen Steinbüsten erschaffen. Um sie zu transportieren, mussten sie ihre Bäume fällen. Es gab eine erfolgreiche Zivilisation auf dieser Insel, die aber mehr und mehr Land brauchte. Irgendwann fiel der letzte Baum, die Erosion des Bodens war die Folge. Es kam zu Mangelernährung und Krankheiten. Zudem konnten sie keine Schiffe mehr bauen, um von der Insel weg zu kommen", erzählt er. "Da ich als Engländer aus einem Volk von Inselaffen (sic) komme, verrät der Song auch etwas von meinen Gefühlen." Man könne das Schicksal der Osterinsel im Kleinen sogar als Prophezeiung für das mögliche Schicksal des gesamten Planeten nehmen, warnt er.

Eine ambitionierte Band wie New Model Army achtet darauf, dass sich Melodien und Textinhalte nicht wiederholen. Dennoch gibt es Konstanten. Da wäre das typische Zusammenspielt von Gesang und Schlagzeug, das der Musik ihren tribalistischen Charakter gibt. Dazu ein fetter Bass, der gerne Melodien intoniert sowie eine über allem schwebende Melancholie. Es ist, als rufe der Tribal Rock der Bradford-Band den Menschen ihre Vergänglichkeit ins Gedächtnis. In ihrer Erdigkeit und Urwüchsigkeit erinnern die trommelgetriebenen Lieder der New Model Army an Höhlenmalereien der Urzeit.

2004 traf die Gruppe ein schwerer Schicksalsschlag, mit Rob Heaton starb ihr langjähriger Schlagzeuger und Autor zahlreicher Songs. In "Fireworks Night" von "Carnival" setzt Justin seinem langjährigen Partner ein musikalisches Denkmal. Die Worte, die er für den finalen Abschied findet, rühren zu Tränen. Dabei war die Beziehung der beiden kreativen Köpfe ziemlich schwierig, wie sich im Interview heraus stellt. Als Freund will Justin seinen langjährigen Mitstreiter nicht bezeichnen. Ihre Probleme kulminierten während der Arbeiten zu "Strange Brotherhood" (1998), die dreieinhalb Jahre (!) dauerten. "Wir hatten beiderseits das Vertrauen in unsere künstlerische Arbeit verloren", bilanziert Sullivan heute. "Ich habe seinem Urteil nicht mehr getraut und er meinem nicht. Alle um uns herum wunderten sich, was wir so lange trieben. Wir haben die Perspektive verloren. Im Nachhinein ist es kein Wunder, dass Rob sich veränderte, ein Tumor von der Größe eines Golfballs wuchs in seinem Gehirn." Der Tumor konnte erfolgreich entfernt werden, nach der Operation stieg Heaton aus. Nur wenige Jahre später erlag er einer Krebs-Erkrankung. An seinem Grab sang Justin Sullivan tapfer "Green And Grey", einen der großen Hits, den beide gemeinsam verfasst hatten. "Es war eine Art Totenwache und zählte zu den schwereren Dingen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Es war für Robert, einen großer Musiker."

Auf der langen Liste von New Model Army-Songs ragen, neben dem bereits erwähnten "Green And Grey", einige Meilensteine heraus. Dazu zählt auch "Purity", die Warnung vor Ideologien, Religionen und absoluten Wahrheiten. "Das Lied ist wahrer als alle anderen Songs, die ich geschrieben habe", findet Justin. "In meiner Jugend hüpfte ich von Religion zu Religion, am Ende war ich von allen Gurus enttäuscht." Ein weiterer Höhepunkt ist "51st State", der die Amerikanisierung Englands beschreibt. "Die Lyrik stammt von meinem Freund Ashley Cartwright, sie war eine Antwort auf die Stationierung der amerikanischen Cruise Missiles in England", erinnert er sich. "Inzwischen ist es eine weltweite Hymne geworden, Land nach Land hat sie sich zu eigen gemacht. Sogar in Amerika hat man uns gebeten, "51st State" zu spielen." Bei dem Gedanken, dass Menschen auf dem gesamten Planeten sich der zunehmenden Amerikanisierung bewusst werden, erlaubt sich der musikalische Berufsrebell ein kurzes, zufriedenes Lächeln. Ganz offensichtlich war seine Arbeit nicht umsonst.

Henning Richter

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