ARBEITSPROBE:
Henning Richter
Journalist / Autor für Musik, Kultur & Sport

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Playboy 03/97:
Höhenflug nach Bruchlandung
AEROSMITH - Ohne Drogen mehr Zeit für Sex und Rock´n´Roll

"Als wir anfingen, waren wir nicht besonders ambitioniert. Wir wollten nur zum größten Ding werden, das der Planet je gesehen hat, die größte Rockband aller Zeiten!", entsinnt sich Steven Tyler, der vollmundige Vokal-Vorturner von Aerosmith. Das Klopfen großer Sprüche gehört zu aufstrebenden Rock´n´Rollern wie die Saiten zur Klampfe, im Unterschied zu den allermeisten Jungspunden sind die "bad Boys Of Boston" ihren übermütigen Pubertätsplänen erstaunlich nahe gekommen - und das gleich zweimal.

In den Siebzigern avancierten Aerosmith zur wichtigsten Hard Rock Band der USA, unermüdlich zogen sie von Stadt zu Stadt und spielten vor Heerscharen halbwüchsiger Fans, die sie "blaue Armee" tauften, ihrer geliebten Jeans wegen. Jugendlicher Leichtsinn, befeuert von zuviel Geld und Zeit, ließ die Leichtfüße zu harten Drogen greifen. Tyler und Gitarrenschwinger Joe Perry, die kreativen Köpfe der Karacho-Combo, handelten sich daraufhin den wenig schmeichelhaften Branchennamen "Toxic Twins" ein. Süchtig und ausgepumpt brach die Gruppe am Ende des Jahrzehnts auseinander, dem Quintett blieben nichts als Schulden, Scheidungen und Scherereien. Am Ende verlor es gar seinen Plattenvertrag - die Höchststrafe für Musiker.

Nach Wiedervereinigung und fälligem Entzug begannen die ernüchterten Ex-Champions ein spektakuläres Comeback, das sie in den Neunzigern in schwindelerregende Höhen führte. Allein ihr vorletztes Werk "Get A Grip" verkaufte bislang weltweit irrwitzige 14,5 Millionen Kopien. Hinzu kommen vitrinenweise Grammies, Awards, Auszeichnungen sowie, nicht zu vergessen, der Respekt der Jungen. Zahllose Nachwuchskapellen versuchten, wie sie selbst zugeben, die Originale zu kopieren. Guns N´Roses, Mötley Crüe und Bon Jovi feierten mit der Masche massive Erfolge, inzwischen dümpeln sie in einer Karriere-Flaute, während die aerodynamischen Rocker mehr Rückenwind verspüren als je zuvor.

"Ein Teil von mir ist immer noch sauer, wegen all dem Sex, den ich damals verpaßt hab", ärgert sich Steven Tyler über seine Jahre Vollrausch. "Verzichte auf Drogen und du hast mehr Zeit für Sex und Rock´n´Roll", weiß der 48jährige Frontmann heute, wo er seit zehn Jahren trocken ist und ein Arbeitspensum erledigt, das für zwei reichen würde. Der testosterongeladene Troubadour ist eine der auffälligsten Figuren der Szene. Nachdem Mick Jagger sich in Interviews zurückhält, riskiert der Muhammed Ali der Rocksänger die dickste Lippe im Showbusiness. Tyler-Zitate wie das folgende finden sich mengenweise auf den Internet-Homepages der treu archivierenden Aerosmith-Fans: "Ich liebe Frauen. Ich liebe jeden Knochen in ihnen. Besonders meinen!" Sex ist Thema Nummer eins des "Shakespeare des Zweideutigen" (Plattenfirmen-Bio), der daneben aber auch zeitkritisch bissige und zart besaitete Zeilen verfaßt. Verheiratet ist der Oral-Akrobat mit der großbusigen Blondine Teresa, oft taucht das Paar jedoch zu dritt auf - komplettiert von ihrer eineiigen Zwillingsschwester Lisa.

Auf "Nine Lives", ihrem aktuellen Album, verbinden die Luftikusse erneut feurige Melodien mit erdigen Grooves. Das kompakte Grundmuster aus Rock, Soul und Funk erhält durch den Einsatz von Sitar, Dudelsack, Drehleier und ähnlich exotischen Instrumenten einen frischen Anstrich. Hinzu kommen Refrains, die süchtig machen. Um derart süffige Lauschmittel zu erhalten, setzten sich Tyler und Perry mit einer Garde erstklassiger Songwriter zusammen und erarbeiteten einen Überfluß an Material, aus dem sie die hochwertigsten Harmonien herausdestillierten.

Brachte der Vergleich mit den Rolling Stones sie vor zwanzig Jahren noch zur Weißglut, bleiben Aerosmith heute gelassen. Kein Wunder, deren mit Abstand erfolgreichstes Album der letzten fünfzehn Jahre, "Voodoo Lounge", verkaufte mit Müh und Not (und Unterstützung von VW) sechs Millionen Exemplare. Großzügig räumt Tyler ein: "Klar, wir haben einiges von den Stones geborgt. Aber wir kopieren niemanden, inklusive uns selbst."

Die gewaltige Resonanz der Jumbo-Rocker hat ihre Ursache auch im geschickten Umgang mit den neuen Medien. Ihre virtuosen Videos eroberten die MTV-Generation, während die Band kaum in Erscheinung tritt, erzählen ihre Clips aufwendig gefilmte Geschichten mit knackigen Darstellern, darunter Tyler-Tochter Liv sowie Alicia Silverstone, dem neuen Stern am Kinohimmel. Auch das Internet nutzen die findigen Traditionalisten, geben on line Interviews und Konzerte. "Wenn unsere Fans auf der Datenautobahn fahren, wollen wir an der Raststätte spielen", bemerkt Tyler im Namen seiner betriebsamen Band.

Ans Aufhören denken die lautstarken Herren, inzwischen allesamt jenseits der 45, noch lange nicht, wie ihr Multi-Millionen-Deal über fünf Alben mit Sony demonstriert, "Nine Lives" ist das erste davon. Seinen beiden Lieblingsbeschäftigungen will Tyler sogar noch im Tod frönen: "Ich werde Jimi Hendrix immer lieben, selbst wenn ich eines Tages künstlich beatmet werden sollte, werde ich bei "Purple Haze" immer noch eine Erektion kriegen. Sie werden ernste Probleme haben, den Sargdeckel zuzunageln."

Henning Richter

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